Mehrgenerationen-Belegschaft: Augenhöhe durch Reverse Mentoring

Junge Leute erklären erfahrenen Mitarbeitenden die Welt? Hinter Reverse Mentoring verbirgt sich deutlich mehr als die schlichte Umkehr der klassischen Mentoring-Beziehung. Anastasia Barner, die Gründerin der ersten Reverse-Mentoring-Plattform Europas, erklärt im Interview, warum Reverse Mentoring Augenhöhe und Gleichberechtigung bedeutet und wie Unternehmen und Arbeitnehmende von dem Format profitieren können.

Anastasia, was verstehst du unter Reverse Mentoring?

Reverse Mentoring heißt nicht, dass lediglich die Jüngeren die Älteren lehren, denn dadurch entstünde erneut ein Gefälle zwischen Generationen. Stattdessen geht es um eine Begegnung auf Augenhöhe, bei der Mentor:in und Mentee voneinander lernen.

Im Reverse Mentoring können Soft Skills ausgetauscht werden, Hard Skills oder unternehmerisches Wissen, aber auch triviale Dinge wie Backen oder Häkeln. Wir können von allen Menschen etwas lernen, wenn wir uns mit Respekt und gleichberechtigt begegnen.

Welche Vorteile hat Reverse Mentoring?

Das Schöne ist, dass man von einer erfolgreichen Person lernen darf, die einen ernst nimmt und selbstbewusster werden lässt, denn Reverse Mentoring kann Ängste lösen. Auch Abiturient:innen hilft es mit jemandem zu reden, der die Etappen Abitur, Studium, Jobeinstieg schon durchlaufen hat und unterschiedlichste Perspektiven aufzeigen kann. Man muss nicht bei dem bleiben, was man von Eltern und Bekannten kennt, somit wird der eigene Horizont erweitert.

Wie profitieren Unternehmen von Reverse Mentoring?

Für Mitarbeitende geht es nicht nur um Profit und Leistung, sondern auch um Sinnstiftung im Job und Weiterentwicklung. Seitdem Homeoffice zunimmt, ist ein wechselseitiger Austausch zwischen Mitarbeitenden noch wichtiger geworden. Dafür ist Reverse Mentoring sinnvoll. Zudem entsteht durch Reverse Mentoring eine positive, wertschätzende Beziehung zum Unternehmen, die verhindern kann, dass junge Arbeitnehmende den Job nach ein bis zwei Jahren wieder wechseln.

Außerdem lernt man selbst als erfolgreiche:r Geschäftsführer:in nie aus, sondern kann sich von der jungen Praktikantin z. B. TikTok oder generell die Sichtweisen der jungen Generation erklären lassen und mit ihr im Gegenzug Erfahrungen und Tipps für eine erfolgreiche Karriere teilen.

Erlebst du Skepsis gegenüber Reverse Mentoring?

Bei FeMentor nicht. Allerdings haben wir auch kein Geld ins Marketing für die breite Masse gesteckt, sondern sind organisch gewachsen über Empfehlungen. Trotzdem stimmt es, dass junge Berufstätige bei den meisten Menschen auf Skepsis stoßen: 2019, als eine der jüngsten Gründerinnen Deutschlands, wurde ich teilweise nicht ernst genommen, nicht von Männern, nicht von Frauen, nicht von Unternehmen. Man wird unterschätzt. Mittlerweile sehe ich darin eine meiner Stärken.

Unter welchen Voraussetzungen verläuft Reverse Mentoring erfolgreich?

Wichtig sind Wissbegierde, Respekt sowie Offenheit, auch bei schwierigen Themen. Des Weiteren ist Reverse Mentoring kein Coaching: Es muss klar sein, dass ein:e Mentor:in Türen zeigen und öffnen kann, aber man selbst hindurchgehen und weiterhin für seine Ziele arbeiten muss.

Auch muss man die eigenen Stärken reflektieren und artikulieren lernen. Ich bin z. B. super organisiert und kann gut mit Excel und allen sonstigen Listen umgehen. Das kann ich meiner Mentorin weitergeben, sodass sie von mir lernt, obwohl ich weniger karriereerfahren bin.

Warum ist Reverse Mentoring gerade im Hinblick auf die Generation Z bedeutsam?

Die Generation Z ist eine schwierige, sensible Generation, das merkt man beispielsweise in der Kommunikation: Auf die für Boomer normalen Witze entgegnen wir: „Sorry Bro, das war gerade sexuelle Belästigung.“ Jede junge Generation kommt mit einer gewissen Arroganz daher, aber die zunehmende Abneigung zwischen Boomern und Generation Z sollten wir auf beiden Seiten stoppen. Mit Reverse Mentoring können wir Begegnungsstätten für (Streit-)Gespräche auf Augenhöhe schaffen und mit Klischees aufräumen. Wir würden merken, dass die andere Generation gar nicht so schlecht und anders ist, wie wir immer lesen und denken, und würden deren Sichtweisen und Bedürfnisse besser verstehen.

Porträtfoto von Anastasia Barner

Im Gespräch mit Anastasia Barner (Foto: Max Haufe)

Wie sieht das Konzept von FeMentor aus?

Reverse Mentoring sollte branchenübergreifend, also nicht nur innerhalb eines Unternehmens, stattfinden, denn Mitarbeitende möchten meist nicht mit ihren Vorgesetzten z. B. über ihr Impostor-Syndrom sprechen. Eine solche externe Plattform bietet FeMentor.

Wir sind die erste Reverse-Mentoring-Plattform in Europa, kostenlos für Frauen und mittlerweile weltweit expandiert. Bei uns gibt es Augenhöhe von Anfang an, weshalb sich Mentorin und Mentee über das gleiche Anmeldeformular bewerben. Unsere Klientel ist äußerst heterogen: Unternehmenserbinnen, Geflüchtete, Menschen aus Nicht-Akademiker-Familien und aus Doktorandenhaushalten. Branchen- und kulturübergreifend ist alles dabei. Durch unser manuelles Matching erreichen wir passende Mentorin-Mentee-Konstellationen. Wir prüfen jede Zuordnung einzeln und erkundigen uns, wen Menschen gerne als Ansprechpartnerin hätten. Unsere Mentorinnendatenbank umfasst mittlerweile über 4000 Einträge.

Ein weiteres Angebot von FeMentor ist Reverse Recruiting. Dabei bewerben sich Unternehmen mit vakanten Stellen über uns bei potentiellen Arbeitnehmer:innen, lernen diese anschließend in einem Reverse Mentoring kennen und entscheiden dann, welche Position zu der Person passt.

Wie stellt ihr den Kontakt zwischen Mentorin und Mentee her?

Online. Spätestens in der Pandemie war klar, dass FeMentor online ablaufen muss und kann, zumindest der Erstkontakt. Man bewirbt sich bei uns, wir wählen anhand der Themen und Antworten eine passende Mentorin aus und stellen, wenn sie zustimmt, den Kontakt her. Es ist kein Bäumchen-wechsle-dich, sondern man bekommt genau eine Mentorin zugeteilt.

Viele Paare sind sich noch nie begegnet. Manche reisen aber auch um die Welt, um sich zu besuchen, sind Freunde geworden, haben zusammen ein Unternehmen gegründet oder arbeiten freiberuflich regelmäßig zusammen. Zum Beispiel haben wir eine Straßenmusikerin, die mit ihrer Mentorin, einer Opernsängerin, in Opernhäusern aufgetreten ist. Es ist alles möglich.

Warum richtet sich FeMentor ausschließlich an Frauen?

Solange Frauen in unserer Gesellschaft härtere Kämpfe zu kämpfen haben, weil sie schwanger werden könnten und schlechter bezahlt werden, brauchen wir einen Safe Space. Männer erhalten auf LinkedIn keine Nachrichten wie: „Ich will dich heiraten, bist du so groß oder sind das deine High Heels?“ In der Berufswelt sieht es nicht anders aus: Wer ist von sexueller Belästigung betroffen? Fast nur Frauen. Deshalb muss es einen sicheren Hafen geben, damit sich Frauen gegenseitig mehr supporten, anstatt gegeneinander um die wenigen für sie reservierten Vorstandsposten zu kämpfen.

Des Weiteren hat eine Testphase mit Männern gezeigt, dass sie lieber lehren als lernen, und es anders als bei Frauen schnell zu einem Gefälle kommt. Das verhindert ein gleichberechtigtes Reverse Mentoring.

Hast du selbst Erfahrungen mit Reverse Mentoring gemacht?

Mit 18 Jahren bekam ich das Kontaktbuch meiner Mutter zum Geburtstag. Von diesen Kontakten sind bereits ca. 50 Frauen meine Mentorinnen gewesen: Freundinnen und Geschäftspartnerinnen meiner Mutter haben mir erzählt, wie es ist, Journalistin zu sein, oder wie ich einen Praktikumsplatz bekomme. Im Gegenzug habe ich ihnen Tinder, Instagram und Co. beigebracht. Das war Reverse Mentoring, obwohl ich den Begriff damals noch nicht kannte.

Zu solchen Netzwerken will ich mit FeMentor möglichst vielen Menschen Zugang verschaffen, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Umfelds. Bis heute lerne ich tagtäglich von Menschen und bin Mentorin in einigen Programmen. Mir war immer klar: Wenn wir zuhören, aber gleichzeitig etwas geben und Fragen beantworten, dann ist die Wirkung groß.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Wir sprachen mit:
Anastasia Barner ist bereits mit 14 Jahren journalistisch tätig gewesen. Ansonsten arbeitete sie als Speakerin u.a. für TEDx, war ein Jahr lang das internationale TikTok-Gesicht für die Deutsche Welle und hat im Oktober 2019 mit 20 Jahren ihr Startup FeMentor gegründet, eine Reverse-Mentoring-Plattform für Frauen. 2023 erschien ihr erstes Buch, in dem sie sich mit der Start-up-Szene, der Generation Z und ihren Erfahrungen als Gründerin in der Geschäftswelt befasst.

 

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Barner, A. (2023). (Ge)Gründet! Start-up-Szene uncovered. Haufe: Freiburg.

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