Vielfalt ist für alle gut? Diversität unter der Lupe

„Vielfalt ist für alle gut“, wird beispielsweise von Ikea propagiert. Doch was ist mit diesem Slogan gemeint? Was bedeutet Vielfalt eigentlich? Bietet sie Unternehmen einen Mehrwert und falls ja, welchen? Antworten auf diese Fragen hält Diplom-Psychologe und Intercultural Trainer Matthieu Kollig bereit.

„Bei IKEA bist du willkommen, unabhängig davon, woher du kommst, an was du glaubst, wie du aussiehst und mit wem du zusammenlebst“, heißt es auf der Internetseite des multinationalen Einrichtungskonzerns. Und weiter: „Vielfalt ist für alle gut.“ Was ist mit diesem Slogan gemeint? Was bedeutet „Vielfalt“? Ist sie auch für Unternehmen gut? Fördert sie tatsächlich deren wirtschaftlichen Erfolg? Die Antwort auf diese Fragen ist vielschichtig, uneindeutig und zum Teil widersprüchlich. Eine praxisorientierte Differenzierung ist hilfreich, um die eigene Haltung zu kalibrieren, Beteiligte besser zu verstehen, den Diskurs über Vielfalt zu schärfen und angemessen zu handeln.

Beginnen wir mit zwei Ebenen von Vielfalt:

Oberflächen-Vielfalt

Traditionell steht Vielfalt (oder Diversität) für „gesellschaftliche Pluralität, für die Heterogenität und Unterschiedlichkeit von Lebenslagen und Lebensentwürfen“ (Arndt & Ofuatey-Alazard, 2011). Konkretisiert wird Vielfalt gemäß der Charta der Vielfalt (2023) anhand von sieben Dimensionen:

  1. Geschlecht und geschlechtliche Identität,
  2. körperliche und geistige Fähigkeiten,
  3. Religion und Weltanschauung,
  4. sexuelle Orientierung,
  5. ethnische Herkunft und Nationalität,
  6. Alter sowie
  7. soziale Herkunft.

Vielfalt gemäß der genannten Dimensionen kann als Oberflächen-Vielfalt bezeichnet werden, wenn diese Dimensionen als demographisch objektivierbar, mithin als „sichtbar“, verstanden werden (Harrison, Price, Gavin, Florey 2002).

Tiefen-Vielfalt

Diversität auf der tiefen Ebene hingegen ist „unsichtbar“ und bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir Informationen verarbeiten. Diese kognitive Vielfalt umfasst unter anderem Denkstile, Perspektiven, Erfahrungen, Werte und Überzeugungen (Luthra, 2021), die durch unsere Kultur, unsere professionellen Kenntnisse und Fertigkeiten sowie durch unsere Persönlichkeit beeinflusst werden (Ekelund, 2019).

Warum diese Unterscheidung?

Trennscharf ist die Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe nicht. So kann beispielsweise die sexuelle Orientierung als Teil der persönlichen Identität und somit auch als „tief“ verstanden werden. Und es gibt Erfahrungen, die kann man nur machen, wenn man einer bestimmten Gruppe angehört (z. B. als Rollstuhlfahrer:in ein Gebäude nicht besuchen können). Die Unterscheidung ist allerdings nützlich, denn sie macht unter anderem darauf aufmerksam, dass wir uns womöglich auf der einen Ebene unterscheiden (z. B. Geschlecht), auf der anderen aber Gemeinsamkeiten haben (z. B. Überzeugungen).

Damit ist allerdings nicht geklärt, warum IKEA proklamiert, Vielfalt sei „für alle gut“. Was bewegt das Unternehmen dazu? Ist Vielfalt nicht lediglich die Beschreibung eines Ist-Zustandes? Warum soll man sich dann dafür einsetzen? Ist Vielfalt tatsächlich per se etwas Positives? Oder können mit Vielfalt auch Herausforderungen einhergehen? Wenn wir drei weitere Perspektiven unter die Lupe nehmen, darunter auch Vielfalt als Ansatz zur Steigerung wirtschaftlichen Erfolgs, wird verständlich, weshalb Vielfalt für Unternehmen und Organisationen ein wichtiges Thema ist, obwohl der Slogan von IKEA nicht ganz stimmt.

Zeichnung zweier Figuren: Die eine surft an der Oberfläche und stellt die Oberflächen-Vielfalt dar, die andere taucht und stellt die Tiefen-Vielfalt dar.

Oberflächen-  und Tiefen-Vielfalt symbolhaft dargestellt (Abb.: Matthieu Kollig)

Vielfalt als Forderung diskriminierter bzw. marginalisierter Gruppen

Diversität ist seit langem ein Thema, auch wenn es nicht immer so genannt wurde. Ein Rückblick: 1962 erhalten Frauen in (West-) Deutschland das Recht, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. 1973 streiken türkische Arbeiter in den Ford-Werken in Köln und machen so ihren Anspruch auf Teilhabe deutlich – hunderte verlieren daraufhin ihre Arbeit. 1994 endet mit der Streichung des Paragraphen 175 StGB die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen. All diese Ereignisse verbindet ein Anliegen: Die Förderung von Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Teilhabe und Zugehörigkeit. Das Ende von Diskriminierung und Ausgrenzung.

Als Anliegen von benachteiligten Gruppen ist Vielfalt also mehr als die Beschreibung eines Ist-Zustands. Sie ist Kritik an bestehenden Besitz-, Beteiligungs- und Machtverhältnissen sowie an Defiziten in der Umsetzung von Rechten. Und sie beinhaltet die Forderung nach besseren Rahmenbedingungen, die dazu beitragen, „dass alle Menschen das Gefühl haben, von Bedeutung zu sein und dazuzugehören“ (Choudhury, 2015). Im Fokus dieser Perspektive: Die Oberflächen-Vielfalt, die als Beschreibung von Ungleichheitsdimensionen verstanden wird. Es ist unverkennbar, wieso der Begriff Vielfalt zum Stein des Anstoßes werden kann. Was für Benachteiligte Ermächtigung und Entwicklung bedeuten kann, ist aus der Sicht von Privilegierten womöglich Bedrohung und Verlust.

Vielfalt als Ansatz zur Steigerung wirtschaftlichen Erfolgs

„Wir sind überzeugt von der Kraft der Vielfalt. Sie ist einer der Schlüssel für unseren wirtschaftlichen Erfolg.“ So erklärt das börsennotierte deutsche Unternehmen EVONIK sein Interesse an Vielfalt. Hier kommt ein gänzlich anderes Anliegen zum Ausdruck: Vielfalt soll wirtschaftliche Vorteile bringen. Die Überzeugung: Vielfältige Teams sind effizienter und innovativer. Deswegen können Organisationen, die vielfältig sind, besser auf Herausforderungen reagieren und die Bedürfnisse unterschiedlicher Kundschaften erfüllen. Vielfalt fördert wirtschaftlichen Erfolg.

Dahinter steht die Annahme, Oberflächen-Vielfalt spiegele kognitive Vielfalt, diese wiederum beeinflusse Entscheidungen in Teams, was folglich positive Auswirkungen habe auf die Leistungen einer Organisation insgesamt. Diese Annahme kann aus mehreren Gründen kritisch betrachtet werden:

  1. Potenziell marginalisierten und diskriminierten Menschen wird unterstellt, sie seien auf einer tiefen, inneren Ebene anders als Menschen, die der Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden können. Die „Anderen“ (z. B. Schwarze Deutsche) werden als „divers“ bezeichnet (Sow, 2008), obwohl das wenig darüber aussagt, ob diese Menschen wirklich unterschiedlich sind (oder vielmehr gleich, z. B. bezüglich ihrer Werte oder Denkstile). Dabei kann vergessen werden, dass es die unterschiedlichen äußeren Rahmenbedingungen sind, die zu Unterschieden führen und so Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Teilhabe und Zugehörigkeit erschweren.
     
  2. Zahlreiche Faktoren beeinflussen den Zusammenhang zwischen Vielfalt und Leistung. So zum Beispiel die Art der Aufgabe eines Teams, die Dauer der Zusammenarbeit, die spezifische Teamzusammensetzung, Maßnahmen von Führungskräften und Personalabteilungen, der wirtschaftliche, historische und gesellschaftliche Kontext, und nicht zuletzt die Dimension und die Ebene der Vielfalt (Jackson, Joshi, Erhardt, 2003). Ein linearer, ursächlicher Zusammenhang zwischen Vielfalt und Leistung besteht nicht.
     
  3. Tiefen-Vielfalt erweitert zwar den Raum der Möglichkeiten, denn mit ihr wächst die Anzahl potenzieller Lösungen und Ideen. Diese Chance ist jedoch mit Kosten verbunden, denn gleichzeitig wächst auch der notwendige Aufwand für die Klärung eines gemeinsamen Verständnisses, gemeinsamer Prozesse und gemeinsamer Ziele. Wenn Tiefen-Vielfalt zu einem Vorteil werden soll, müssen die Vorteile die Kosten überwiegen. Das Potential kognitiver Vielfalt entfaltet sich nicht von selbst. Dazu muss aktiv beigetragen werden.

Vielfalt als Grundlage für Legitimation

Anlässlich der Unterzeichnung der Charta der Vielfalt durch das Bundeskriminalamt im Jahr 2014 heißt es in einer Pressemitteilung: „Das Vertrauen der Bevölkerung ist für die Polizeiarbeit von essenzieller Bedeutung.“ Hier kommt ein weiterer Aspekt von Vielfalt zum Ausdruck: Die Legitimation von Institutionen. Organisationen, die für die Gesellschaft relevant sind, sollen ebendiese unter anderem in ihrer Zusammensetzung repräsentieren.

Die Annahme: Wenn die Vielfalt innerhalb einer Organisation die Vielfalt in der Gesellschaft abbildet, werden Leistungen wie Bildung, Kinder- und Jugendhilfe, Altenpflege, Gesundheitsversorgung, Kulturangebote oder die öffentliche Verwaltung für alle gleichermaßen zugänglich sein. Das wiederum legitimiert die Träger:innen dieser Leistungen und schafft gesamtgesellschaftliches Vertrauen.

Dazu müssen Zugangsbarrieren und Abgrenzungsmechanismen von Organisationen abgebaut, Regeln und Normen angepasst und die grundsätzliche strategische Ausrichtung verändert werden (Terkessidis, 2010). Der gesetzliche Rahmen: Europarechtliche Vorgaben zum Diskriminierungsverbot wie die im Dezember 2000 proklamierte Charta der Grundrechte oder das 2006 in Deutschland in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).

Den Rahmen bildet letztlich auch die 1948 verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie beginnt mit den Worten: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Auch hier steht die Oberflächen-Vielfalt im Fokus. Auch hier ist Vielfalt mehr als eine Beschreibung eines Ist-Zustands, denn es wird anerkannt, dass institutionelle Legitimation noch nicht gegeben ist. Die gesetzliche Verankerung markiert hier eine zusätzliche Facette: Die zu erbringende Pflicht als Ergänzung zum eingeforderten Recht.

Fazit

Natürlich wären neben den genannten Konzepten des Begriffs “Vielfalt” weitere Differenzierungen möglich, so können z. B. weitere Ebenen von Vielfalt betrachtet werden oder die Tatsache, dass Personen mehrere Zu- und Nichtzugehörigkeiten haben können. Abzusehen ist auch, dass sich unser Verständnis von Vielfalt weiter entwickeln wird.

Jedoch ist klar geworden: Wer behauptet, Vielfalt sei grundsätzlich für irgendwen oder irgendetwas „gut“, macht sich eine ganze Reihe von unbelegten Annahmen zu eigen (van Dijk, van Engen, van Knippenberg, 2012). Wer allerdings der Überzeugung ist, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Teilhabe und Zugehörigkeit seien an und für sich „gut“, der stellt sein Engagement für Oberflächen-Vielfalt auf eine Basis, die jahrzehntelang gewachsen ist. Zudem sind die Vorteile der Tiefen-Vielfalt in Unternehmen ein verborgener Schatz. Wie dieser geborgen werden kann, erläutere ich in einem Folge-Artikel.

Literaturliste zum Download

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